Lausanne - Uzwil

Durchhaltevermögen

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Aufgrund eines operierten Kreuzbandes wechselte ich vor ein paar Jahren vom Laufsport auf das Rennrad. Radfahren schont die Knie und hat den Vorteil, dass man auch einigermassen vorwärtskommt. Nach etwas Ausprobieren mit den Sattelstellungen gewöhnte ich mich auch an den praktisch ungepolsterten Sattel und das Ganze wurde mit der Zeit recht bequem. Sport ist kein Selbstzweck und muss sein, denn ohne nehmen andere Teile des Lebens überproportional Schaden. Es ist aber nicht gerade einfach sich für Leistungssport zu motivieren. Mich motivieren einfache Sachen, die aber trotz der Einfachheit oder gerade deswegen noch niemand geschafft hat. Nachfolgend geht es um ein solch einfaches Ziel, das mich zu einigen Stunden Sport animierte.

Ziel

Autobahnen und Autostrassen, sprich grün ist mit dem Rad tabu. Ständig anhalten und warten ist kein Genuss, es musste also eine Route auf Hauptstrassen her. Ich wollte ein einfaches Ziel und begann mit der Eins. Die schweizerische Hauptstrasse 1 führt von Kreuzlingen nach Genf, vom Bodensee an den Genfersee oder einfacher formuliert quer durch die Schweiz. Vor zwei Jahren fuhr ich erstmal nur den Teil von Uzwil nach Bern (190 Kilometer). So lernte ich die Route kennen und erfuhr, wo genau die Probleme eines solchen Vorhabens liegen. Die Durchschnittsgeschwindigkeit war trotz ziemlichen Schmerzen gegen Ende nicht beeindruckend. Ausserdem hatte ich immer das Gefühl, als ob mir der Wind ständig ins Gesicht blies. Ich war der Meinung, es müsse sich um einen Effekt des Jetstreams handeln. Da der Jetstream von Westen nach Osten bläst, nahm ich mir vor, beim nächsten Mal in der Westschweiz zu starten und so von kontinuierlichem Rückenwind zu profitieren. Im folgenden Jahr waren Berge dran, ein Terrain, das mit meinem Körperbau einfacher zu befahren ist. Das fehlende Drittel von Bern nach Genf liess mich aber in 2014 nicht mehr ruhen. Nun wollte ich von Genf bis Uzwil. Punkt. Im Juni habe ich dann die Route auf Strava erstellt. Das Resultat: glatte 330 Kilometer. Ich dachte mir: Kein Problem, am Abend vorher mit dem Zug nach Genf und anschliessend einen ganzen Tag Zeit für die Route.

Ausreden und Radfahrer haben lange Beine

Wie jeder weiss, kommt beim Radfahren Style und (wenig) Gewicht vor Funktionalität. So wird der Faktor Geld minimiert, während Sicherheit maximiert wird. Radsport und Motorsport haben in diesem Sinne keine Gemeinsamkeiten. All dies hat zur Folge, dass ich immer noch mit normalen Pedalen und Joggingschuhen unterwegs bin und meine Routen noch mit einem alten iPhone 4 ohne Barometer aufzeichne. Natürlich hat das positive Effekte auf eben genannte Basisfaktoren und trotzdem nur einen winzigen Einfluss auf unwichtige Dinge wie Effizienz und Professionalität. Für einen Spottpreis kaufte ich mir irgendwann superleichte Pedalen, die jedoch für meine breiten Hohlfüsse auf Dauer zu schmal waren. Im Sommer wechselte ich deshalb die Pedalen mit denen am Fahrrad meines Vaters. Alles an sich kein Problem. Nun werden die Pedalen aber direkt an die Kettenblattgarnitur montiert. Abgesehen vom Rahmen ist die Kettenblattgarnitur das schwerste und auch teuerste Teil am Fahrrad. Das Optimieren bezüglich des Gewichts hat hier zur Folge, dass ich mit einer hohlen Garnitur aus Aluminium unterwegs bin. Aluminium ist allerdings viel weicher als Stahl, aus welchem das Pedalgewinde besteht. So kam es, dass ich die Pedale schräg reinschraubte und so das Gewinde ruinierte. Treten war nicht mehr möglich und mitten im Sommer stand ich ohne Rad da.

Es musste eine Lösung her. Das vordere Kettenblatt komplett zu ersetzen wäre eine riesige Geld- und Materialverschwendung, denn dieses kleine Einzelteil kostet 20% des ganzen Rades. Ich wollte deshalb irgendwie das Gewinde retten. Eine Google-Suche bestätigte mir die Machbarkeit mithilfe von Gewindeeinsätzen. Ich wollte ungern selber ein neues Gewinde bohren, da ein Anfängerfehler immensen Schaden zur Folge hätte.

Um die Stärke des Schweizer Franken auszunutzen, bin ich öfters in Konstanz, wo ich einkaufe und Pakete abhole. Da Konstanz allgemein als Radfahrer-Mekka am Bodensee bekannt ist, hoffte ich dort einen fähigen Velomechaniker zu finden. Als ich aber am späten Nachmittag erfolglos sieben Mechaniker nach einer Lösung gefragt hatte, war auch der letzte Schimmer Hoffnung weg. Entweder wurde behauptet, eine solche Reparatur sei zu instabil oder mir wurde gleich ein neues, aber schlechteres Kettenblatt angeboten. Beides kam nicht in Frage und ich entschied mich, das Ganze selber in die Hand zu nehmen. Da die Kettenblätter für normale Räder heute relativ billig sind und ein Mechaniker diesen Fehler auch höchstens einmal macht, werden solche Reparaturen heute kaum noch durchgeführt.

Garnitur, Gewindeeinsatz und Gewindebohrer

Für Pedalgewinde gibt es einen uralten quasi Standard, der aber ansonsten nicht mehr verbreitet ist. Einsätze und Bohrer dieser Grösse, die nicht speziell für Pedalgewindereparaturen vermarktet wurden, waren deshalb nicht mehr zu finden. Die Spezialsets wiederum kosteten entsprechend viel. Glücklicherweise stiess ich auf eine deutsche Webseite, die Gewindeeinsätze für zwei Euro das Stück verkaufte, für den Bohrer verlangten sie allerdings eine immense Summe. Ich bestellte also erstmal nur den Einsatz und wartete zu. Als ich den Einsatz zu Hause vermessen konnte, merkte ich, dass das äussere Gewinde ebenfalls kein Standard war, so war man als Kunde quasi auf den ebenfalls angebotenen Bohrer angewiesen, den sie wie gesagt auch verkauften. Bohrer für das entsprechende Gewinde gab es einzeln eigentlich nicht zu kaufen. Auf ebay fand ich jedoch einen Verkäufer aus Shanghai, der solche Spezialanfertigungen für 10 Euro das Stück verkaufte. Zwei Wochen später hatte ich diesen Bohrer bei mir zu Hause. Da ich für einen Ferienjob vor ein paar Jahren mal in der Werkstatt bei Bühler in Uzwil arbeitete und damals schon ein Gewinde reparierte, wusste ich, dass dort entsprechendes Werkzeug und einiges an Erfahrungswerten vorhanden war. Ich ging also mit meinen Rohmaterialien vorbei und wurde mit offenen Armen empfangen und unterstützt. Fast alles lief gut und das Pedal ist wieder voll belastbar, auch wenn meine Bohrung leicht schräg ausgefallen ist, was man mit dem Auge zwar sieht, beim Fahren aber nicht merkt.

Wie jeder sich denken kann, dauerte all das eine Weile und ich musste mitten im Sommer wieder mit dem Joggen beginnen. Als das Rad wieder einsatzbereit war und ich mich wieder ans Radfahren gewöhnt hatte, war der Sommer auch schon vorbei. Trotzdem begann ich mit dem Training für die geplante Route. Die Tage wurden allerdings immer kürzer und die Temperatur immer tiefer. Ich wusste, wenn ich noch realistische Chancen auf einen Erfolg haben wollte, die Route gekürzt werden musste, so dass ich einerseits nicht im Dunkeln fahren musste und andererseits ausreichend trainiert war. Ich strich zwei Stunden am Genfersee und wollte nun in Lausanne statt in Genf starten. Für diese Route von 270 Kilometern setzte ich mir ein Ziel von maximal zehn Stunden.

Training

Aufgrund der enormen Distanz fokussierte ich mich hauptsächlich auf Quantität (lange Strecken) und weniger auf Qualität (schnell fahren). Eine Distanz von 270 Kilometern schafft man untrainiert wohl kaum und so steigerte ich die Dauer meiner Trainings von Woche zu Woche. Zum Beispiel fuhr ich statt mit dem Zug, mit dem Rad von Brugg nach Uzwil und retour. Unten eine quantitative Darstellung des nötigen Trainings.

Trainingaufwand nach Strava

Ich wollte eigentlich mehr trainieren. Das knapp siebenstündige Probetraining über mehr als 200 Kilometer verlief überraschenderweise relativ passabel und das Wetter am kommenden Wochenende machte einen guten Eindruck. Kurzerhand entschied ich mich, das Ding durchzuziehen, bevor mich tiefe Temperaturen, Regen oder gar Schnee daran hindern konnten. Wie auch in diesem Fall, trainiert man normalerweise bei solchen Distanzen nur im Bereich von ¾ der gesamten Distanz. Jemand der für einen Marathon trainiert, wird also maximal eine Strecke von 30 Kilometern laufen. Der fehlende Viertel wird am besagten Tag dann durch zusätzliche Motivation gegenüber dem Training kompensiert.

Race Day

Am Freitag, 31. September 2014, war es dann soweit und ich buchte mir ein Hotel in Lausanne und begab mich abends auf den Zug. Bei der Fahrt einen Rucksack zu tragen kam nicht in Frage und so nahm ich nur das Minimum mit. Da ich nicht gerade gern mit der Velokleidung herumreise, zog ich ältere Hosen und ein älteres T-Shirt an, die ich ohne Reue vor der Fahrt einem Abfalleimer in Lausanne übergeben konnte. Das klappte soweit auch alles, die Probleme lagen anderswo. Denn der Check-in kurz vor Mitternacht ging in die Hose. Ich war für eine Inlandreise gerüstet, in Lausanne ist es aber nicht möglich ohne ID-Karte auf das Zimmer zu gehen. Meine Überredungskünste halfen hier nicht, denn Regeln sind nun mal Regeln. Pech dachte ich mir, immerhin eine Übernachtung gespart (siehe zu optimierende Faktoren). Was blieb mir übrig? Draussen war es doch schon relativ kalt und wenn möglich sollte ich vor einem solchen Tag schon etwas schlafen. Mir kam dann in den Sinn, dass das Gleis 7 Abonnement, mit dem ich gratis angereist bin, noch länger gültig sein muss. Tatsächlich gilt es bis am nächsten Morgen um 5 Uhr. Im Zug ist es wenigstens warm und etwas schlafen sollte auch möglich sein. So begab ich mich in Lausanne auf den Nachtzug. Die längst mögliche Route führte nach Genf und wieder retour. Leider nur eine Stunde pro Weg. Die kurze Fahrtdauer war allerdings nicht das einzige, was mich am Schlafen hinderte. Ausgerechnet an diesem Tag war Halloween. Auf jeder der vier Fahrten, die ich in dieser Nacht antritt waren unzählige betrunkene Jugendliche mit Verkleidungen, die im Zug fröhlich weiterfeierten. Als das Gleis 7 dann nicht mehr gültig war, hatte ich ungefähr eine Stunde geschlafen. Nichtsdestotrotz begann ich mit der Verpflegung, zog die Radfahrkleidung an und entsorgte den Rest. Drei Energydrinks und ich fühlte mich, als ob ich die ganze Nacht geschlafen hätte. Auch konnte ich nun sogar eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang losfahren, so dass ich, auch wenn die Wirkung des Koffeins einmal nachlassen würde, trotzdem noch zu einer anständigen Zeit ankam.

Gleich am Anfang kam die höchste Steigung. Soweit kein Problem, denn ich wusste, dass ich auf einer zehn stündigen Fahrt besser nicht schon an der ersten Steigung übersäuerte. Oben kam dann auch schon die Sonne und es wurde allmählich wärmer, zumindest am Anfang, denn schon bald kam starker Nebel auf. Noch vor Bern, das ich ohne grosse Probleme erreichte, war aber die Sonne zurück und ich konnte mein Gilet ausziehen und die Batterien der Velolampen schonen. Ob ich noch vor Sonnenuntergang in Uzwil ankommen würde, stand schliesslich noch in den Sternen. Nach Bern waren dann auch meine Trinkflaschen leer und es war Zeit für eine Mahlzeit. Ich holte also an einer der vielen Tankstellen, die man an der Hauptstrasse 1 antrifft, neue Getränke und etwas zu essen. Dann ging es weiter, ab hier kannte ich die Strecke, auch wenn es schon zwei Jahre her ist und ich damals in die andere Richtung fuhr. Der Hauptteil von Bern nach Zürich, der hauptsächlich durch die flache Schweiz führt verlief besser als gedacht und es fühlte sich zumindest so an, als ob die Theorie mit dem Jetstream nicht ganz falsch war. Etwa zeitgleich mit dem Probetraining erreichte ich den Teil der Hauptstrasse 1, den ich am Montag schon gefahren bin. Ich fühlte mich nun jedoch einiges fitter und es war mir nicht so kalt. Zum Glück, denn die Fahrt dauert diesmal auch einiges länger. Motiviert, drückte ich gleich noch mehr in die Pedalen.

Erinnerung

Hier bemerkte ich, wie einem die Erinnerung irreführen kann. Untenstehende Kurve zeigt, wie ich das Höhenprofil mehr oder weniger im Kopf hatte.

Zu meinem Erstaunen sah aber die Realität ganz anders aus, nämlich so, wie es von Strava aufgezeichnet wurde.

Wie erkläre ich mir diesen Unterschied? Es heisst, wenn man glücklich und aufgeregt ist, so lerne man besser. Mit allzu grossen Glücksgefühlen sollte man auf einer solchen Fahrt nicht rechnen. Was aber auftreten kann, sind die umgekehrten Gefühle der Niedergeschlagenheit und des Kampfes. Speziell wenn es den Berg hoch geht (die Königsdisziplin an der Tour de France) leidet man regelrecht. Das Hirn merkt sich nun diese Abschnitte speziell gut, dass man sie in Zukunft sicher nicht unterschätzt. Die flachen Teile gehen vergessen und schon ist man beim gezeichneten Profil.

Der Mann mit dem Hammer

Die Tour ging weiter und ich näherte mich allmählich Zürich und der Verkehr wurde, da es Samstagnachmittag war, immer dichter. Kurz vor Rudolfstetten kam noch die letzte wirkliche Steigung. Den Tunnel davor, den ich letztes Mal umfahren habe, passierte ich diesmal mit Bravour. Für die Beine war auch die Steigung durchaus machbar.

Bis hier war die Durchschnittsgeschwindigkeit weit über meinen Vorstellungen, in Zürich ging es jedoch bachab. Viel Verkehr, Baustellen und generell zu viele Kurven verlangsamten mich stark. Dies wirkte sich auch mental auf die Motivation aus, welche nun stark sank. Der letzte Tankstellenbesuch war schon fast vier Stunden her und ich kam in ein Loch, sowohl physisch (Hungerast, Fett- statt Kohlenhydratverbrennung), als auch mental (Motivation, Stau und ständig Lichtsignale). Das hatte zur Folge, dass die Durchschnittsgeschwindigkeit in kurzer Zeit markant abnahm, was mir, bei den Zielen, die ich mir noch kurz vor Rudolfstetten gesteckt hatte, gar nicht entgegenkam. Auch hatte es ausgerechnet in dieser Grossstadt keinen Tankstellenshop und ich wurde erst nach Oerlikon fündig. Die Verkäuferin meinte dann noch, ich sei der Erste, der das Getränk schon vor dem Bezahlen öffnete, für Autogramme war aber keine Zeit und so ass ich ein Sandwich, trank Kaffee und füllte die Trinkflaschen mit einer 1:1 Cola-Wasser Mischung. Der kurze Stopp zeigte Wirkung und ich war wieder topfit. Nun waren es noch zwei Stunden, die ich ohne grössere Probleme und nun wieder mit einer anständigen Geschwindigkeit absolvieren konnte. So war ich trotzdem noch vor Sonnenuntergang in Uzwil.

Den Tag nicht vor dem Abend loben

Zuhause angekommen, waren meine Beine komplett Matsch, und alles was ich jetzt noch wollte, war ein Bad. Gesagt, getan. Nach dem Bad war es schon Abend. Ich konnte mich nur noch ins Bett legen. Hier war das Abenteuer allerdings noch nicht zu Ende. Ich hatte einen klassischen Anfängerfehler begangen. Wenn man die Muskeln stark und über lange Zeit belastet, reisst eine grosse Menge an Muskelfasern. Diese müssen repariert werden. Bei der Reparatur entzünden sich die entsprechenden Stellen. Ein heisses Bad und schlafen unter der Decke verstärken aufgrund der Wärme diese Entzündung noch. So kam es, dass ich nach circa zwei Stunden schlafen aus einem sehr unangenehmen Fiebertraum aufwachte. Der Körper hat auf die Entzündung und Belastung mit Fieber reagiert. Auch waren meine Beine extrem heiss. Ich hatte in der Vergangenheit schon von diesem Phänomen gehört, dachte aber, das treffe nur auf Profis zu. Nun wurde ich eines Besseren belehrt und so kühlte ich die Beine mit kaltem Wasser und einer kühlenden Creme. Das wirkte Wunder und das Fieber war auch gleich wieder weg. Somit waren die 270 Kilometer von Lausanne nach Uzwil erfolgreich überstanden.

Abfahrt Säntis

1 UCT steht für Uzwil Crime Town, also für die Stadt Uzwil im Kanton Sankt Gallen. Der Name wurde von Unbekannt am Bahnhof an eine Mauer gesprayt und wird seither umgangssprachlich verwendet.

December 20, 2014